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Verlagert – demontiert – ausgeschlachtet. Vom NS-Rüstungsbetrieb zur Maschinenfabrik Diedesheim, Heidelberg u.a. 2018 (Beiträge zur Geschichte des Neckar-Odenwald-Kreises, Bd. 7), Verlag Regionalkultur, 296 S., ISBN 978-3-95505-077-1, 22,80 Euro
von Dr. Georg Fischer (Schefflenz)
Tobias Markowitsch : Goldfisch 1944-1974 – Dieser siebte Band der „Beiträge zur Geschichte des Neckar-Odenwald-Kreises“, herausgegeben vom Kreisarchiv Mosbach, informiert detailreich über die Verlagerung eines Teiles der Daimler-Benz- Flugzeugmotorenwerke Genshagen (Ortsteil von Ludwigsfelde südlich von Berlin) in den Gipsstollen der Heidelberger Cement-AG nach Obrigheim a.N. ab März 1944.
Schwerpunkte sind die Veränderungen der Region („Überforderungen“ S. 66-72, 113-118) durch die so entstandene Rüstungsfabrik „Goldfisch“, der Abtransport ihrer 2.100 Maschinen in die Sowjetunion und der Aufbau der Maschinenfabrik Diedesheim mit den zurück gebliebenen Resten. Tobias Markowitsch schließt an die Erkenntnisse der kritischen Forschungen zur Daimler-Benz-Aktivität während des Zweiten Weltkriegs an.
Der Verein KZ-Gedenkstätte Neckarelz sammelte und veröffentlichte in den letzten 25 Jahren das Wissen über die Arbeits- und Lebensbedingungen der Häftlinge und Zwangsarbeiter, die wegen dieser Militarisierung im letzten Kriegsjahr in die Region verbracht wurden. Diese Literatur stellte das Leid der Menschen in den Vordergrund, für die als Doktorarbeit angenommene Forschungsveröffentlichung wechselte Markowitsch die Perspektive hin zu den Aktenüberlieferungen in den von ihm durchsuchten vierzehn Archiven. Dies führt zu Erkenntnisgewinnen v.a. bezüglich der Umsetzung von Planungen, wenngleich die Überlieferung der von Tätern verfassten Dokumente die materiellen und psychischen Auswirkungen auf die Menschen unterbelichtet lässt.
Das Kapitel, wie es zum „Goldfisch“ kam, erläutert die Ursachen (v.a. Lufthoheit der Alliierten) und Neuorganisation (v.a. Kooperation von Staat, Partei und Daimler-Benz im „Jägerstab“) ab Februar 1944. Kurzbiografien des Direktors Müller (Daimler-Benz), des Projektleiters Kammler (SS) und vieler weiterer Manager erläutern deren kontinuierliche Berufswege. Den Umbau (im Groben während eines halben Jahres) der Gipsgrube zu einer modernen Flugzeugmotorenfabrik schildert das dritte Kapitel, einschließlich der Hauptakteure in der Bauinspektion, dem KZ-Komplex und den Architekturbüros. Die Kapitel vier und fünf sind durch ein Zwischenfazit unterbrochen, das zusammenfassen will, wie „der große Fisch … ins Flussbett gesetzt“ wurde, und dass er dann zu Ostern 1945 „auf dem Trockenen“ landete. Solch kreative Überschriften nutzt Markowitsch, um auf die Symbolik des Tarnnamens „Goldfisch“ hinzuweisen.
Ungeklärt bleiben weiterhin die Gesamtkosten des Verlagerungsprojektes, weil die drei Kostenträger (Reichsministerien, Daimler-Benz und SS-Wirtschaftsverwaltung) unterschiedliche Rechnungslegungen führten. Nach aktenbekannten Planungen stiegen allein die Baukosten von 3,8 Millionen Reichsmark (Feb. 1944) auf 14 Millionen Reichsmark (August 1944). Um wie viele Millionen das Bruttosozialprodukt des Elzmündungsraums im letzten Kriegsjahr stieg wäre nötig zu wissen, damit die materielle Wertentwicklung mit den politischen und psychischen Entwicklungen ins Verhältnis gesetzt und erst so über „Erfolg“ oder „Zusammenbruch“ qualitative Aussagen getroffen werden können.
Das umfangreichste und die meisten neue Erkenntnisse zu Tage fördernde sechste Kapitel schildert mit überzeugenden Archivzitaten, wie sich internationale Entwicklungen lokal im Elzmündungsraum auswirkten. Aus der Rüstungsfabrik wurde das erste Reparationsobjekt in der US-Besatzungszone, aus dem die Werte in die Sowjetunion gingen. In dieser Phase wurde der minderbelastete ehemalige kaufmännische Leiter Dr. Reinhard zum „Verhandlungskünstler“ (S. 131), welcher aus den Resten des „Goldfisch“ mit der Gründung der „Maschinenfabrik Diedesheim (MfD)“ einen Motor der Industrialisierung und wirtschaftlichen Stabilitätsfaktor für die Region prägte.
Die ausführlichen Details zu Gegebenheiten zwischen April und November 1945 (einschließlich der juristisch verfolgten Diebstähle, einer Güterzug-Verschiebung und einiger Prozesse) und zur anschließenden Demontage erweitern und korrigieren die bisher bekannten Vorgänge.
Dank der Archivforschungen von Markowitsch steht nun – entgegen der bisherigen Vermutungen – fest, dass alle 2.100 Maschinen (S. 177) der Obrigheimer Rüstungsfabrik, die sich die sowjetische Abnahmekommission aussuchte, bis März 1947 nach Bremerhaven abtransportiert wurden. In welchem Zustand sie in der Sowjetunion ankamen und ob bzw. wo sie verwendet wurden, bleibt nach wie vor im Dunkeln.
Wie mit dem von der Daimler-Benz AG 1954 mit „hypothetischen“ 22 Millionen DM (S. 220) angegebenen Wertverlust durch diese Reparationsleistung umgegangen wurde, konnte aber noch nicht geklärt werden. Dafür können Interessierte viel zu den Winkelzügen lesen, die zur „Resteverwertung zugunsten der deutschen Wirtschaft“ (bes. S. 184-190) zwischen 1945 und 1949 unternommen wurden, denn nach dem Abtransport der High-Tech-Maschinen waren noch Waren mit dem Wert von 200.000 bis 500.000 Reichsmark vorhanden, die quasi das Startkapital für die Nachkriegs-Industrialisierung bildeten. Die nach heutiger Kaufkraft 0,5 bis 1 Million Euro halfen nach dem Krieg wieder Arbeitsplätze zu schaffen und dynamisierten die Wirtschaftsentwicklung.
Tobias Markowitsch bemüht sich um Lesbarkeit (auch mit anekdotischen Hinweisen, z.B.: Hitler hatte Bedenken zum Namen „Jägerstab“, da die Bevölkerung an die Förderung des Jagdwesens denken könnte, S. 37), folgt aber begrifflich der Tätersprache. Beispielsweise sei es der MfD gelungen, „die Region vor einer enormen wirtschaftlichen Krise zu bewahren“ (S.270). Distanziert analysierender könnte formuliert werden: Mit US- und Ministeriumsunterstützung wurden die Weltkriegsfolgen für die Region so gemanagt, dass die Bevölkerung nicht überfordert und die Grundlagen des „Wirtschaftswunders“ geschaffen wurden.
Selbstverständlich bleiben offene Fragen. Was bedeutet, dass die Maschinen „gelähmt“ (S. 140, Anm. 380) gewesen seien? Verbirgt sich darin das Streuen von „Sand ins Getriebe“, das Zeitzeugen als antikommunistische Tat beschrieben haben, um Stalin keine intakten Maschinen liefern zu müssen – oder ist es nur ein Verweis auf die unterschiedliche Qualitätsbeurteilung in den Jahren 1946 und 1956? Wissenschaftsmethodisch bleibt offen, ob nicht ein mehr an Diskussion der Sekundärliteratur geholfen hätte, die Mentalitätsveränderungen zwischen Februar 1944 und Februar 1945 (Ende der Siegeshoffnungen), bzw. jene bis zur MfD- und BRD-Gründung durch Aktenüberlieferungen zu belegen.
Der Neckar-Odenwald-Kreis nahm die Darstellungen von Tobias Markowitsch in die Reihe seiner heimatgeschichtlichen Veröffentlichungen auf. Dies ist als nötig und mutig zu loben, denn die kritisch hinterfragten Aktivitäten von Betrieben und politischen Institutionen sowie die der Hauptakteure vor und nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs werfen ein bezeichnendes Licht auf die Wahrnehmung und den Begriff „Heimat“ – was auch gegenwärtige Diskussionen aufzuhellen vermag.
Tobias Markowitsch hat mit seinen Archivrecherchen das heimatgeschichtliche Wissen über die Jahre 1944 bis 1958, um die Rüstungsfirma Goldfisch und die Maschinenfabrik Diedesheim, in dankenswerter Weise korrigiert und erweitert.
Tobias Markowitsch : Goldfisch 1944-1974 – Verlagert-demontiert-ausgeschlachtet. Vom NS-Rüstungsbetrieb zur Maschinenfabrik Diedesheim, Heidelberg u.a. 2018 (Beiträge zur Geschichte des Neckar-Odenwald-Kreises, Bd. 7), Verlag Regionalkultur, 296 S., ISBN 978-3-95505-077-1, 22,80 Euro